Stern 111 by Lutz Seiler

Stern 111 by Lutz Seiler

Autor:Lutz Seiler
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: 90er, Akkordeon, Assel, Auswanderung, Berliner Mauer, Berlinroman, Bill Haley, Briefe, DDR, Deutscher Buchpreis, Eltern, Familie, Flucht, Geheimnis, Gera, Grenzöffnung, Hausbesetzer, Hausbesetzerszene, Herbst 89, Kneipe, Kruso, Künstlerroman, Lager, Mauerfall, Nachhut, Nachwendezeit, Neunziger, Notaufnahme, Oranienburger Straße, Ostberlin, Osten, Radio, Roadmovie, Roadtrip, Rock ’n’ Roll, Schwarztaxi, Shiguli, Sowjetunion, Sozialismus, Wende, Westberlin, Westen, Wohnheim, kluge Rudel
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2019-12-31T16:00:00+00:00


Arbeiterinnen

»Sie waren sofort da«, sagte der Hirte und nickte über den Tresen, zu den Frauen hin. »Das sind Arbeiterinnen, Carl. Und diese Arbeit ist, weiß Gott, keine leichte. Sie haben die Assel gewählt – instinktiv. Weil sie wissen, dass sie hier in Sicherheit sind. Und sicher haben sie auch unsere Fahne gesehen, das unbesiegbare A. Und schau mal – da drüben.«

Der Hirte strahlte und blickte Carl erwartungsvoll an: »Die Männer von der Starkstrombrigade sind wieder an Bord. Auch sie beginnen zu begreifen, nach und nach …«

Carl hatte sich für das Auto bedankt, die Reparatur des Shiguli bedeutete ihm viel. »Bedank dich bei Adele und den Russen, wenn sie in Zukunft unsere Gäste sein werden«, hatte Hoffi gesagt. Er redete weiter, auf die übliche, schwer verständliche, aber äußerst anziehende Art und Weise.

Draußen wurde es Nacht, und die Assel füllte sich. Bis dahin hatte die Oranienburger einen eher abgelegenen Eindruck gemacht, still, fast tot, wie die Seitenstraße am Rand einer Kleinstadt, durch die nur ab und zu eine Straßenbahn rumpelt, um zu verhindern, dass die Gegend in ewigen Schlaf fällt. Schon in den ersten Julitagen sei es damit vorbei gewesen, die Frauen hätten, so Henry, noch in der Nacht der Währungsunion ihre Arbeit aufgenommen. Seitdem saßen sie dort, an einem der runden Tische direkt vor dem Ausschank, und tranken Kakao, der neuerdings bestellt werden konnte und innerhalb von Sekunden in einer Panasonic-Mikrowelle unter dem Tresen zubereitet wurde – das Gerät war eine Sensation. Und noch mehr hatte sich verändert in Carls Abwesenheit: Es gab jetzt verschiedene Whiskys und Wodkas, ein magisch schimmerndes Gewimmel von Flaschen, das die Augen blendete, aber auch andere Getränke wurden ausgeschenkt, sogar Bananensaft.

Eine Traube von Gästen drängte gegen den Tresen, Carl gab sein Bestes, aber das war zu viel. Er war nervös und ungeschickt. Nicht nur die Starkstromer, auch Carl und alle anderen im Keller versuchten, nicht ununterbrochen auf die Frauen zu starren. Dabei unterschieden sich die Arbeiterinnen anfangs kaum von anderen Gästen. Sie trugen noch keine Masken aus Farbe im Gesicht, und ihre Beine hatten sich noch nicht in glatte, glänzende Plastikteile verwandelt, niemand hätte mit Sicherheit sagen können, wer von ihnen arbeitete und wer nicht. Für zusätzliche Verwirrung sorgte, dass einige der Frauen, die Irina nur »unsere Mädchen« nannte, schon am Vormittag in der Assel saßen, als wäre das ihre einzige Möglichkeit weit und breit (was sie auch war).

Der Hirte stand nur da und lächelte. Irgendwann hob er den kohlengroßen Hörer seines Funktelefons ab und führte ein kurzes Gespräch. Er sah sehr zufrieden aus dabei, wie der Befehlshaber eines aufstrebenden Imperiums. »Gleich kommt Hans«, sagte der Hirte zu Carl, als hätte er gerade eine schwerwiegende Entscheidung getroffen. Dann legte er die Kohle zurück auf den Kasten und verschwand durch den Hinterausgang in den Hof, »um Dodo zu melken«.

»Drei Ka-ka-o für den Nuttentisch, das übernehme ich-ich-ich«, summte Hans vor sich hin und machte die Milch heiß. Gleichzeitig öffnete er ein paar Biere, säuberte den Ausschank und stellte Gläser bereit. Er war geschickt, und seine Bewegungen wirkten elegant – er war der ideale Tresenmann, und zusammen konnten sie es schaffen.



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